Der umherirrende Jude

Odarschuk Wasily ist 65 Jahre alt, er leidet an Glaukom und wurde das Opfer eines Immobilienbetruges.
Er verlor deshalb seine Propiska.
Odarschuk Wasily verlangt Gerechtigkeit und auch die Anerkennung seiner Invalidenrente. Von Kiew bis Pskov via Magadan, Adler, Sotschi, Murmansk und Seweromorsk: Odarschuk Wasily irrte auf der Suche nach einem Heimathafen lange umher.
Die Bruchstücke seiner Existenz wurden von Philip Brazgowsky zusammengetragen. Alles hat vor 75 Jahren in Kiew begonnen, genauer gesagt, im Moment der Invasion durch die Nazis im August 1941.
Unter dem Vorwand, die Bevölkerung vor dem Kommunismus zu schützen, sondern die Angreifer die Ukrainer aus. Die jüdischen Familien werden in Zweierkolonne aufgereit. Dies betrifft auch meine Mutter, sagt uns Wasily.Zu jener Zeit ist sie 15 Jahre alt.
Sie ahnt, dass etwas faul ist, reisst aus der Kolonne aus und flüchtet. Damit rettet sie ihr eigenes Leben und jenes meiner Grosseltern.

Sag nie, dass du ein Jude bist
Einer der ersten Dinge, die mir meine Mutter Dascha häufig wiederholte, war: „Sag nie, dass du tin Jude bist“. Seit zwei Jahren gehe ich jedoch häufig in die Synagoge und habe das Gefühl, meine Schuld gegenüber meiner Mutter zu begleichen. Als sich meine Eltern schieden, sind Dascha und ich nach Kiew gezogen. An meinen Vater erinnere ich mich überhaupt nicht mehr.
Wir waren arm und ich erinnere mich, dass mich die Hunde jagten; einmal musste ich auf einen Baum klettern, um nicht von ihnen gefressen zu werden. Nach der Schule studierte ich in einer Militärakademie. Ich liebte diesen Moment meines Lebens und fand, dass mir die Uniform sehr gut stand.

Dienstuntauglich
Mein Ziel war, Marineoffizier zu werden. Dies war nicht möglich, ich hatte die körperlichen Voraussetzungen dazu nicht. Sie stellten dies fest. Auch ich musste eingestehen, dass ich keinen Wehrdienst leisten kann. Und da bin ich wieder, zurück im Zivilleben. Wenn man hier kein Glück hat, verdient man weniger als in der Armee.
Ich habe geheiratet, hatte eine Familie zu ernähren. Ich habe mein Studium wieder aufgenommen und 1984 mein Diplom als Buchhalter-Wirtschaftsexperte erhalten.
Ich hatte in Kiew einen guten Posten in einer Fabrik.

1986
Tschernobyl ist explodiert, ein Gerücht verbreitete, dass man die Männer zur Arbeit als „Liquidator“ zwang. Kam für mich gar nicht in Frage. Ich zahlte Schmiergeld und wir hauten nach Magadan ab, wo ich als Rechnungsprüfer arbeitete. Mein Arbeitgeber musste infolge einer Steuernachzahlung dichtmachen.
Ich zog nach Adler weiter, nach Sotschi, nach Murmansk: hier und dort Gelegenheitsjobs.

Gerechtigkeit oder Selbstverbrennung
In Seweromorsk bin ich für eine Verpackungsfirma Fleisch-Zulieferer. Der Boss weigert sich, meinen Lohn zu bezahlen.
Ich gewinne den Prozess. Zuhause angekommen, werde ich von einer Gang erwartet und verprügelt. Mein rechtes Auge wird dabei verletzt, seither leide ich an einem Glaukom.
Ich gehe zum Stadtplatz und drohe, mich anzuzünden, falls mir keine Gerechtigkeit widerfährt. Und so lande ich in einem Spital für Verrückte, wo schreckliche humane und hygienische Zustände herrschen.

2005 befinde ich mich in St. Petersburg, wo ich Gärtner einer Firma bin.
Ich bin in einer traurigen Baracke auf dem Firmengelände untergebracht. In meiner Freizeit führe ich Reparaturen aus, ich will sparen, um mir ein Zimmer oder sogar eine Wohnung zu kaufen.

Keine Antwort von Präsident Putin
2008 begann die Krise, die Preise stiegen schlagartig. Meine Ersparnisse haben gerade noch für eine Wohnung im Dorf Pyatschin in der Nähe von Pskov gereicht.
Als ich eintraf, musste ich feststellen, dass ich eine Ruine erworben hatte. Sämtliche Decken und Böden waren verfault, die  Feuchtigkeit beherrschte den Ort. Wenn es regnete, ergossen sich vom Dach wahre Sturzbäche in die Wohnung.
Ich reichte Klage ein, schrieb vier mal an Präsident Putin, erhielt aber nie eine Antwort. Die Wohnung hat nicht einmal einen Ofen. Im Winter friert man, unmöglich, dort auszuharren. Unmöglich auch, die Wohnung ohne Heizung zu verkaufen.
Ich zog es vor, in Zügen oder Bahnhöfen zu schlafen statt in dieser Bruchbude.
Im Bahnhof habe ich von Nochlezhka erfahren. Dort wohne ich jetzt. Die Dienste helfen mir zu meinem Recht zu kommen und dass man mir die Medikamente gibt, auf die ich Anrecht habe.

Trotz allem guter Laune
Unser Land ist reich, aber die Leute leben in Armut. Nehmen Sie den Krieg in Syrien, all das dort ausgebene Geld wäre so nützlich, um Leute mit niedrigem Einkommen zu unterstützen. Kürzlich kam ich bei der Boutique von Ebony vorbei. Aus eingebauten Lautsprechern pries man Pelzmäntel an.
Ich musste lachen: wer kann sich schon solchen Luxus leisten.

Eines ist sicher: ich werde dennoch stets meine gute Laune bewahren.

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