Interview mit Nikolai Waluev

Nikolay ValuevNochlezhka hat die Serie mit den Ansichten von petersburger Persönlichkeiten fortgesetzt. Dieses Mal fand ein Treffen mit dem ehemaligen Boxer Nikolai Waluev statt.
Waluev ist heute 42 Jahre alt. Er war 2005-2006 und 2008-2009 Schwergewichts-Weltmeister nach WBA ; er ist heute im Ruhestand.

Im Dezember 2011 wird er für die Partei Vereinigtes Russland (die Partei von Präsident Putin) Mitglied des russischen Parlamentes (die Duma). Am 17. Dezember 2012 unterstützt er ein Gesetz, das die Adoption russischer Waisen durch Bürger der USA verbietet. Das Gesetz wurde angenommen.
Das Diskussionsthema lautete: Wie sollen die Jungen darauf vorbereitet werden, wenn sie als Erwachsene aus dem Waisenhaus austreten. Welche Rolle könnte der Sport in ihrer Erziehung spielen?

Ohne Propiska keine Unterkunft

Nehmen wir beispielsweise Denis, 26 Jahre alt. Er lebt zur Zeit im Foyer für Wiedereingliederung bei Nochlezhka. Denis ist in Leningrad (Sankt-Petersburg) geboren und wurde mit seinem Bruder in einem städtischen Heim für intellektuel zurückgebliebene Kinder platziert.
Bei Erreichung der Volljährigkeit ziehen die beiden Burschen in eine Zweizimmerwohnung, die ihnen gehört (das russische Gesetz ermöglicht es, Waisen beim Austritt aus ihrem Heim eine Unterkunft zu übergeben). Der Bruder von Denis trinkt und wird mehrmals inhaftiert. Denis will ihn verlassen.
2012, 24-jährig, schlägt ihnen ein Freund seines Bruders vor, die Wohnungen zu tauschen. Sie werden sich einig und die beiden Brüder werden in der Folge in einem Dorf ausserhalb der Stadt eingeschrieben. Dadurch verlieren sie ihre Propiska (Registrierung) und landen in der Folge auf der Strasse.
Im Moment lebt Denis wie erwähnt im Foyer von Nochlezhka, deren Jurist versucht, die Unrechtmässigkeit der Immobilien-Transaktion zu beweisen.

Russland: 700’000 Waisen

Nochlezhka (N): Nikolai Waluev, denken Sie, dass es möglich sein wird, die Unrechtmässigkeit dieser Transaktion zu beweisen?

Nikolai Waluev (NW) : Die Möglichkeit dazu ist quasi null.

N: Man kann versuchen zu beweisen, dass Denis sich anlässlich der Unterschrift infolge seines psychischen Zustandes nicht bewusst war, welche Auswirkungen dies haben wird. Aber es stimmt – es wird sehr schwer zu beweisen sein, dass die betrogene Person praktisch ohne Hilfe dastand.

N: Dieser Fall erlaubt uns, die Frage bezüglich der Erziehung der Kinder in den Waisenhäusern und den für sie eingerichteten Heimen aufzuwerfen. Gemäss der Statistiken des Innenministeriums finden 90% den Weg ins normale Leben nicht, 40% kommen ins Gefängnis, 40% werden Alkoholiker oder drogensüchtig, 10% begehen Selbstmord. In Russland zählt man über 700’000 Waisen und Kinder ohne elterliche Aufsicht.
Kann man am System etwas ändern?

NW: Ja, man kann. Ich besuche regelmässig mehrere Waisenhäuser, eines im Kreis Moskau oder Padmoskowie, einer florierenden Region, wo die Kinder alles haben, was sie wollen – sie haben sich vom Weihnachtsmann i-Pads gewünscht.
Ein anderes Waisenhaus befindet sich im Dorf von Talovka. Dort schätzen die Kinder meine Besuche und ein bescheidenes Weihnachtsgeschenk – ein Riesenereignis für sie. Das Gebäude ist ziemlich verfallen und bescheiden, aber sauber und aufgeräumt. Die Kinder sind gepflegt, sie haben ihr eigenes Dampfbad.

Vom Waisenhaus ins reelle Leben.

N: Aber was tut dieses Heim selbst für die Sozialisierung der Kinder?

NW: Wenn ein Kind ins Waisenhaus eintritt, muss es als erstes auf das wirkliche Leben vorbereitet werden. Die Umgebung, in der es aufwächst, muss entsprechend angepasst sein. Das Erziehungsministerium gibt ziemlich viel Geld aus für die Heime.
Manchmal unterschlägt die Direktion solche Gelder, aber dies sind spezielle Fälle. Diese Leute haben absolut kein Gewissen, sie werden alle im Fegefeuer brennen.
Die Institutionen, von denen ich spreche, unterrichten die Verhaltensregeln des täglichen Lebens, bringen den Kindern bei, was arbeiten heisst und welche Verpflichtungen man hat. Sie haben ihren eigenen Gemüsegarten und bekommen Besuch von Agronomen. Mehrere von ihnen wollen Bauer oder Agronom werden und auf dem Feld arbeiten.
Die Erzieher ihrerseits suchen in den Berufsschulen Studienplätze, welche den Interessen der Kinder entsprechen.
Im weiteren interessieren sich die Erzieher auch später noch für ihre ehemaligen Schüler und ihre Situation. Damit gelingt es ihnen, eine beinahe familiäre Ambiance zu schaffen. Es kommt auch vor, dass ehemalige Schüler ins Heim zurückkommen, um von ihrem neuen Leben und ihren Erfolgen zu erzählen. Diese Kommunikation ist für sich schon ein kleines Programm.

N: Ist es nach Ihnen nur die Arbeit, die die Kinder auf das aktive Leben vorbereiten kann?

NW: Für die Jungen müssten Module wie «soziale Erziehung» oder vielmehr «Kenntnisse des sozialen Lebens in der Welt der Erwachsenen» im Schulprogramm enthalten sein.
Die Bewohner der Heime kennen die einfachsten Dinge des Lebens nicht: wie das Wasser oder der Strom bezahlt wird, ja, sie wissen nicht einmal, dass es Fürsorge- und Gemeindeämter gibt. Ihre soziale Anpassungsfähigkeit ist null.
Ich habe Erinnerungen aus meiner Kindheit, als mein Vater mich auf die Baustelle unseres zukünftigen Hauses mitnahm, um ihm dort zu helfen. Ich habe mir alle Handgriffe eingeprägt.
Wenn ein Kind Fabriken, Werke oder andere Orte besucht, wo Leute arbeiten, bleibt dies in seinen Erinnerungen haften. Wenn es jedoch ausschliesslich studiert und Bücher liest, was an und für sich nicht schlecht ist, wird es keinerlei Erfahrung des wirklichen Lebens haben. Man braucht ein Sozialisierungsprogramm für die Jungen in den Waisenhäusern.

Die risikoreiche Miete

N: Wie kommt es dazu, dass ein solches Programm im Heim, von dem Sie sprachen, bereits existiert?

NW: Die Direktorin hat entschieden, dass es so sein soll – damit ihre Kinder nicht spurlos verschwinden, damit sie die Übernahme der Unterkunft, die ihnen der Staat gibt, nicht umbringt.
Die Gesetzgebung muss dafür sorgen, dass diese Art von Unterkunft weder verkauft noch vermietet und während 5 Jahren nach der Zuweisung auch nicht durch die Banken enteignet werden können. Denn auch die Miete einer Wohnung kann sich für einen Waisen als gefährlich erweisen.

N: Weil die Gangster Informationen über diese Wohnungen haben?

NW: Ja, diese Gauner haben ihre Informanten in den zuständigen Diensten und sind auf dem Laufenden über die Unterkünfte, die der Staat abgibt.
Nach meiner Meinung muss man die Gesetze betreffend Immobilienschwindel und Betrug der Jungen, die das Waisenhaus verlassen, verschärfen. Aber es wäre praktisch unmöglich, eine spezielle Prozessordnung dazu einzuführen.
Ich habe die Frist von 5 Jahren dem Gesundheitskomitee der Duma bereits vorgeschlagen, weiss aber nicht, was mit der Initiative geschieht. Nach unserem Interview werde ich die Frage erneut stellen.

N: Wissen Sie, ob die Duma die Frage der Aufhebung der Registrierung (Propiska) behandelt hat? Derzeit hängen die Rechte der Bürger sehr oft mehr vom Stempel im internen Pass ab als von der tatsächlichen Existenz der Person.

NW: Ich kann mich nicht daran erinnern, dass man in den letzten 3 Jahren davon gesprochen hat, es sei denn, dies sei im Rahmen eines Gesetzes erfolgt – man erhält jeden Tag ungefähr vierzig Gesetzesvorschläge, die man nicht alle behandeln kann.

Der Sport, Schule für die Anstrengung

N: Erhalten Sie mehr Anrufe, seit Sie Abgeordneter sind?

NW: Ganz sicher, meistens handelt es sich aber um Beschwerden der Art «das Dach ist undicht» oder «man hat mich beleidigt? Diesen Fällen gehe ich jeweils nach.

N: Unterstützen Sie mehrere karitative Organisationen?

NW: Ich habe meine eigene karitative Stiftung (die karitativ-sportliche Stiftung für Kinder und Jugendliche von N.W.). Im Prinzip finanziere ich sie selbst. Es ist nichts sehr grosses, aber man kann in Russland damit 7 Boxschulen unterstützen. Die Schüler müssen nichts bezahlen.
Eine andere Aufgabe unserer Stifung ist die Entwicklung des russischen Hockeys oder das Hockey mit dem Ball. Dieser Sport ist tot in Petersburg, obwohl er in dieser Stadt geboren wurde. Er wird in Sibirien, im Fernen Osten, in insgesamt 38 Ländern ausgeübt. Wir müssen ihn wieder auferstehen lassen.

N: Denken Sie, dass der Sport, auch Amateursport, die Leute abhärtet, sie moralisch stärker macht, damit sie wegen mangelndem Willen nicht untergehen?

NW: Der Sport festigt den Willen, lehrt uns Geduld und hilft uns im Leben. Er bringt den Kindern bei, dass man ein Resultat nur mit einer Anstrengung erreicht. Der Sport verlangt physische und andere Arten von Anstrengungen. Dies ist normal und er ist nützlich für alle Kinder, für die Jungen in den Heimen noch mehr als für die andern.

N: Wieviel Zeit verwenden Sie für die karitative Arbeit?

NW: Ich zähle die Stunden nicht, aber sie verlangt viel Energie – Zeit, finanzielle Mittel, Freude an der Aufgabe.

N: In welchem Moment haben Sie das Verlangen verspürt, sich in dieses Gebiet zu stürzen?

NW: Ich wusste, dass ich damit anfangen werde. Früher oder später erreicht man ein Alter, in dem man etwas geben muss.

Die Wohltätigkeits-Arbeit gleicht einem Produkt

N: Wie beurteilen Sie das Niveau der Wohltätigkeits-Arbeit in der russischen Gesellschaft?

NW: Man muss dafür Werbung machen wie für irgend ein anderes Produkt. Wenn Sie dafür auf Schritt und Tritt Beispiele dazu begegnen, wissen Sie, um was es geht und Sie werden diese Arbeit auch machen wollen. Das soziale Umfeld formt den Menschen, wie bei Mowgli, der weder lesen noch schreiben konnte.

N: Und die Bücher, können uns diese in der karitativen Arbeit weiterbringen?

NW: Ganz sicher, sie machen uns weiser. Leider nimmt die Nachfrage zur Zeit ab, der Computer wird das Buch aber nie ersetzen können.

N: Welche Bücher haben Sie beeindruckt, haben Sie geprägt?

NW: In meiner Kindheit habe ich gewisse Bücher mehrere Male gelesen, jetzt habe ich die Zeit dazu nicht mehr. Meistens «verschlinge» ich ein Buch und lege es dann zur Seite. Natürlich merke ich mir bestimmte Passagen, jedes Buch bringt uns etwas bei. Aber so wie ich kein Idol in meinem Leben habe, so hat kein Buch meine innere Überzeugung verändert.

N: Ab welchem Moment haben Sie sich erwachsen gefühlt?

V: Ich fühle mich Gott sei Dank auch heute noch als Bengel.