Grigory 37 Jahre

Grigory Swerdline ist Direktor von Nochlezhka.
Er erzählt uns, wie es dazu kam.
Retter im Gebirge?
Es begann 2003, ich wollte einige ehrenamtliche Aktionen zugunsten benachteiligter Bevölkerungsgruppen unterstützen.
Ein Freund hat mir den Nachtbus von Nochlezhka empfohlen. Der Vorschlag war gut, ich habe während mehr als sechs Jahren mitgearbeitet.
Ich bin ausgebildeter Ökonomist, habe zehn Jahre in einem Unternehmen gearbeitet bis mir bewusst wurde, dass mich diese Arbeit nicht befriedigt.
Ich erwartete etwas anderes vom Leben. Ich fragte mich, ob ich nicht Retter im Gebirge werden könnte. Ich bin Alpinist und habe gute Kenntnisse der ersten Hilfe.
Ich suchte ebenfalls nach Möglichkeiten bei karitativen Vereinigungen, wobei mir bewusst war, dass die Arbeit oft ehrenamtlich ist. Oder ich stellte mir vor, einen Verein zu gründen.
Eines Tages Ende Oktober 2010 sprach ich über all das während eines Spazierganges mit Zoia, damals Direktorin von Nochlezhka.
Ich bat sie um Ratschläge zur Organistion einer Nichtregierungs-Organisation.
Am nächsten Tag telefonierte mir Zoia, um mir die Stelle als Koordinator der Überlebenszelte anzubieten.
Man baute diese Anfang Dezember auf, ich tauchte sofort voll in die Vorbereitungsarbeiten ein: Standorte suchen, Bewilligungen einholen, die finanziellen Mittel sicherstellen.

Helfen wollen
Zoia entschied am Ende des Winters, in Deutschland zu studieren. Die Stelle des Direktors war vakant. Meine Kollegen haben mich dazu auserkoren.
Ja, so bin ich seit fünf Jahren der Kopf von Nochlezhka.
Vor meiner Arbeit für den Nachtbus habe ich mich nicht speziell um Obdachlose gekümmert.
Heute kann ich dem Freund nur gratulieren, der mich seinerzeit dazu ermutigt hat, Freiwilliger in dieser Lebensmittel-Verteilorganisation zu werden.
Mein Wille zur Hilfe muss unbewusst gewesen sein. Heute ist dies natürlich nicht mehr der Fall.
Wenn ich mich nicht um Obdachlose kümmern würde, wäre ich für HIV-Kranke tätig, für Gefangene oder für psychisch Kranke.
Kategorien, ganz oder teilweise vom Staat vergesssen.

4 P1030228Unser Verhältnis zum Staat ist schwierig
Sehr viele Beamte bringen Nochlezhka Sympathie entgegen, da wir gute Arbeit leisten.
Wenn wir aber ihre Untätigkeit kritisieren, öffentlich ihre Nichteinhaltung von Gesetzen anprangern, sie beim Staatsanwalt oder in der Presse anklagen, schätzt uns der Staat und seine Beamten nicht mehr.
Andere Vereinigungen gehen anders vor. Sie sind diskreter, da sie befürchten, dass ein entschlossenes Vorgehen dem Staat als Vorwand dient, sie finanziell nicht mehr zu unterstützen.
Sie vergessen, dass das Geld des Staates vom Steuerzahler kommt und nicht von einigen wenigen  Beamten.
Unsere Verantwortung ist es, darauf zu achten, dass die für die Obdachlosen vorgesehenen Mittel effektiv ihnen zugute kommen.
Der Ruf des Garanten der Rechte der Obdachlosen ohne Ausweis liegt uns sehr am Herzen.

Nochlechka ist kein ausländischer Agent
35% unseres Budgets kommen von Mitbürgern. Cool, vor vier Jahren waren es erst 5%. 10% sind Beiträge von Firmen. Es ist uns offensichtlich noch nicht gelungen, sie besser zu motivieren.
Das Problem dabei ist, dass die Obdachlosigkeit kein gutes Image hat.
Es kommt übrigens vor, dass Spenderfirmen uns bitten, sie nicht namentlich zu erwähnen. Dies wegen des stereotyp negativen Rufes der Obdachlosigkeit.
40% stammen von religieusen und sekulären Vereinigungen im Ausland. Im Allgemeinen unterstützen diese spezifische Vorhaben.
Diese Beiträge unterstellen uns theoretisch dem Gesetz über „die ausländischen Agenten“.
Dieses bestimmt: Wenn eine Organisation Gelder aus dem Ausland erhält und an einer politischen Aktivität teilnimmt, muss sie als ausländischer Agent eingetragen werden“.
Dieses Gesetz ist sehr clever. In der Tat kann sogar eine Wohltätigkeitsorganisation wie Nochlezhka als „ausländischer Agent“ betrachtet werden.

Lächerliche Mittel angesichts der Grösse des Problems
In Russland gibt es sehr wenige Vereinigungen, die obdachlosen Sans-Papiers helfen. Zehn oder elf im ganzen Land. Dabei müssten wir gegen vier Millionen Personen helfen.
Unsere Ohnmacht gegenüber der riesigen Nachfrage macht mir oft zu schaffen. Unsere Lösungen und Mittel sind so lächerlich angesichts der Grösse des Problems.
Ich weiss, dass andere Nichtregierungs-Organisationen viel besser dastehen, finanziell und personell. Andere Themen als die Obdachlosigkeit sprechen die Leute viel besser an. Kinder, Tiere, der Krebs. Dies ist auch im Ausland so.
Aber hier in Russland hält sich der schlechte Ruf der Obdachlosigkeit hartnäckig, wie bereits gesagt.
Das ist „seine Schuld“.
Wenige wissen, dass in unserem Land die grosse Mehrheit der Obdachlosen vor allem Leute ohne Ausweise sind. Sie sind infolge der absurden administativen Verordnungen auf der Strasse gelandet.
Nochlechka versucht, die Bevölkerung in diesem Sinne zu informieren und zu sensibilisieren, damit die Einwohner nicht die ganze Schande einfach den Obdachlosen zuschieben.

Die Obdachlosen ohne Papiere interessieren niemanden
In Europa ist die Obdachlosigkeit nicht die Folge sinnloser administrativer Schikanen. Zudem kümmern sich zahlreiche Organisationen, auch der Staat, um die auf der Strecke gebliebenen
Nicht so hier.
Hier kann es jedem leicht passieren, obdachlos zu werden, selbst wenn man ursprünglich einen stabilen sozialen Status hatte.
Natürlich hat eine gut eingegliederte, gut ausgebildete Person mit einer Wohnung an ihrem Geburtsort mehr Chancen davonzukommen, als jemand, der eben seine Propiska verloren hat.
Wir kennen zahlreiche Fälle von Personen, die aufgrund der Macht der staatlichen Absurdität trotz ihres sozialen Netzes obdachlos geworden sind.
Lediglich 3% wählen freiwillig, auf der Strasse zu leben.
Und selbst unter ihnen erfolgte das „ja, es war mein Entscheid, auf der Strasse zu leben“ vielleicht nicht ganz so unbeeinflusst.
Es scheint, dass die Aussage „dies ist meine Wahl“ eine Art psychologisches Wohlbefinden verschafft, eine Art von sehr relativer Unabhängigkeit.
Bleibt noch die grosse Mehrheit der Obdachlosen, der wir zu helfen versuchen. Allein in St. Petersburg zählt man über sechzigtausend.

Nochlechka interveniert nur auf Anfrage
Wir haben leider nicht genügend Ressourcen, um auf die Mittellosen zugehen zu können. Die Obdachlosen kommen in unser Aufnahmezentrum, zu unserem Nachtbus oder im Winter in die Überlebenszelte. Wir machen keinerlei Auflagen.
In der Regel sehen wir die Leute, denen wir geholfen haben, nie mehr. Wir verstehen sie, sie wollen das Kapitel abschliessen und wenn möglich diesen schrecklichen Abschnitt ihres Lebens vergessen.
Natürlich gibt es Ausnahmen wie die Frau, der wir die administrative Identität zurückgeben konnten und die dadurch eine Stelle als Friseurin finden konnte.
Seither kommt sie einmal pro Monat zu Nochlezhka, um den Bewohnern die Haare zu schneiden.

Wie die Situation verbessern? Eine rein politische Angelegenheit
In Erwartung eines sehr hypothetisch grösseren Willens der Regierung, die Gesetzgebung bezüglich der Registrierung der russischen Bürger zu ändern, müssen wir gegen die Ursachen kämpfen, die tausende Menschen auf die Strasse wirft:
Kämpfen für eine Reform der Waisenhäuser, kämpfen gegen den Immobilienbetrug, eine zwischen den Regionen und Grossstädten ausgeglichenere Wirtschaftpolitik fördern, um so die Migrationsströme innerhalb Russlands zu vermeiden.
Die Aufgabe ist zweifelsohne riesig, viel grösser als ich es mir an jenem Abend vorstellen konnte, als ich zum ersten Mal in den Nachtbus stieg.

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