Anatoly Kurkowsky, 48 Jahre alt, ist Chefarzt des Krankenhauses Botkin in St. Petersburg.
Es ist dies das einzige Spital, das bereit ist, obdachlose Sans-Papiers aufzunehmen und zu pflegen.
Jeden Tag warten über 100 von ihnen vor der Eingangstür.
Anatoly Kurkowsky erzählt uns seinen Tagesablauf.
Er spricht hauptsächlich von seinen Patienten und der sozialen Ungerechtigkeit, die sie betrifft; von sich selbst sagt er wenig.
Schon 15 Jahre
Ich arbeite hier seit 1999. Ich vermute, dass man mir diese Stelle angeboten hat, weil der Chef der Verwaltung dachte, ich glaube an Gott. Es stimmt, ich bin gläubig und dies hat mir bei dieser Aufgabe enorm geholfen. Bereits als Medizinstudent pflegte ich obdachlose Sans-Papiers und es gibt sie auch heute noch. Vor meiner Ankunft im Jahr 1999 kümmerte sich das Pflegepersonal nicht oder nur sehr wenig um diese Randbevölkerung. Zugegeben, sie kommen in einem abstossenden, schmutzigen Zustand hieher, ausgezehrt, unglücklich.
Ich versuche, über diesen äusseren Aspekt hinwegzusehen. Und in der Tat, wie können sie angesichts ihrer Überlebensbedingungen sauber sein?
Nicht urteilen
Sie haben eine nüchterne Beurteilung ihrer Situation nötig. Das Personal muss den physischen Aspekt überwinden und echt dabei helfen, dass sie sozial und gesundheitlich wieder auf die Beine kommen.
Ich versuche nicht nur zu tun, was als Arzt notwendig ist, sondern das Sprichwort „Den Hungigen ernähren, den Nackten kleiden, die kältestarre Person aufwärmen“ zu befolgen.
Wissen Sie, es ist unmöglich, die Obdachlosen zu verurteilen, a priori zu denken, sie seien schlecht.
Oft sind sie selbstlos und teilen ihre wenigen warmen Kleider mit jemandem. Für sie ist ein warmer Tee mehr wert als der kürzlich gekaufte Neuwagen für den Fahrer lambda. Ihre Werte unterscheiden sich von unseren.
Die durchschnittliche Überlebensdauer auf der Stasse beträgt sieben Jahre. Wegen der fehlenden Papiere erhalten sie kaum je Pflege trotz all der Krankheiten und Unfälle.
Ich habe ein Frau. Keine Kinder. Ich widme mich ganz dieser Arbeit und bereue es nicht.
Das Desinteresse der Stadtbewohner tötet
Man kann sich nur sehr schwer vorstellen, was es für jemanden heisst, seinen Lebensraum, seinen Sozialstatus zu verlieren.
Zahlreiche Türen schliessen sich. Sogar eine Nacht an einem sicheren, geschützten Ort zu verbringen, ist schwieig für sie.
Es gibt skandalöse Geschichten, zum Beispiel der Obdachlose, der im Winter in einem Treppenhaus Unterschlupf gefunden hatte. Eine Frau aus einer Wohnung hat ihm kochendes Wasser auf sein Gesicht gegossen, um ihn zu vertreiben.
Der teuflische Zyklus
Hier in Botkin sind wir zu fünft: der Chirurge, ein anderer Arzt und zwei Pflegerinnen. Das Wichtigste bei unserer Arbeit ist, die Leute nicht zu verurteilen. Die häufigsten bei dieser Bevölkerungskategorie angetroffenen Krankheiten betreffen Haut, Magen, Leber und die Psyche.
Nach umfassender Pflege und entsprechender Nahrung befinden sich die Obdachlosen nach Verlassen des Krankenhauses wieder auf der Strasse und der teufliche Zyklus beginnt von vorn.
Der Alkohol ist natürlich eine grosse Bürde. Die Obdachlosen versuchen ihren Alkoholkonsum damit zu begründen, die Probleme vergessen zu können. Das stimmt wohl, das Trinken verschlimmert anderseits ihre Probleme. Ihr Gewissen ist vollständig vom Alkohol überschattet. Die Obdachlosen verstehen alles, überlegen aber nur wenig.
Sie lieben es, in Trance zu schweben. Diese Leute haben Angst, mit sich und ihren Gedanken allein zu sein.
Für Konfliktsituationen, wenn der Patient agressiv ist, habe ich meine Methode. Ich weiss, dass diese Person einmal ein Kind war und diese grundsätzlich alle gut sind.
Ich stelle mir diesen Menschen also als Kind vor und behandle ihn auf diese Weise. Meistens beruhigt er sich dabei.