Der Zirkus, ein Heilmittel für die Strassenkinder.
Russland schlägt alle Rekorde bezüglich Anzahl der Strassenkinder. Das neue Adoptions-Gesetz wird diese Situation nicht eben verbessern, ganz im Gegenteil. Seit dem Jahr 2000 bietet der Zirkus Upsala von Sankt-Petersburg eine originelle Lösung an: Zirkuskind sein, um sich wieder einzugliedern.
Nichts hat sich verändert
Am 30. Dezember 1875 schrieb Fiodor Dostoïevski ein Weihnachtsmärchen: Reiche, gut genährte Leute verjagen einen obdachlosen Knaben aus ihrer üppigen Weihnachtsfeier. Die Geschichte endet mit dem Tod des Knaben, erfroren auf der Strasse.
Sicher denken Sie jetzt: «Welch traurige Geschichte, die sich da vor 128 Jahren zugetragen hat. Aber heute hat sich in Russland ja alles geändert». Leider irren Sie sich.
Kurz vor Neujahr 2013 haben die russischen Gesetzgeber quasi einstimmig ein wichtiges Gesetz verabschiedet, welches es Ausländern verunmöglicht, russische Waisen zu adoptieren. Wladimir Putin hat das Gesetz am 1. Januar 2013 in Kraft gesetzt.
Dabei stellt sich die Frage: haben sich die Parlamentsabgeordneten der Duma, des russischen Parlamentes, einen kurzen Moment überlegt, ob die Waisen in Russland künftig besser behandelt werden? Was wird mit diesen Kindern geschehen, denen die einzige Möglichkeit für ein anderes Schicksal genommen wurde, eines, das sich von jenem des post-sowjetischen System unterscheidet? In welche Lage geraten diese Kinder üblicherweise nach dem Austritt aus dem Waisenhaus?
Offensichtlich haben die Duma-Abgeordneten nie darüber nachgedacht.
Das Vorgehen der Regierung
Gemäss den Soziologen verlassen jedes Jahr 15’000 Jugendliche unter 18 Jahren die Waisenhäuser. Das Erziehungs-Ministerium katalogisiert sie wie folgt: 50% davon gehören zur Kategorie der Risiko-Personen, 10% verüben Selbstmord, 33% sind arbeitslos und 20% werden obdachlos.
Im Verlauf der letzten 15 Jahre haben fast 90’000 dieser Kinder kein Anrecht auf Unterkunft gehabt, wie es das Gesetz vorschreibt. Die Behörden haben ihnen lediglich eine Karte für eine «einfache Fahrt in die Welt der Obdachlosigkeit» ausgehändigt, wohl wissend, dass die durchschnittliche Lebenserwartung auf der Strasse 7 Jahre beträgt.
Upsala, ein Zirkus der «Hooligans», ein Spektakel des Lebens
Im Jahr 2000 haben Astrid Schom und Larissa Afanasyewa den «Zirkus Upsala» gegründet, ohne jegliche staatliche Unterstützung.
Astrid und Larissa sowie einige wenige Vertrauensleute verstehen ihren Zirkus als Alternative zum Leben auf der Strasse. Ihr Sozialprojekt für die benachteiligten Kinder von Sankt-Petersburg steht in starkem Gegensatz zum Verhalten des russischen Staates.
Im diesem Frühling 2013 arbeiten rund fünfzig Knirpse und Jugendliche zwischen 6 und 20 Jahren im Zirkus und führen das Stück «Die Hunde» vor. Der Saal ist zum bersten voll, viele Kinder und zahlreiche Erwachsene sind anwesend.
Unter den Zuschauern bemerkt man zwei weltbekannte Meister des Zirkus: Viatscheslaw Polunin et Valentin Gneuschew.
Eine mitreissende Musik breitet sich im Zelt aus und das Publikum vergisst schnell, dass der Zirkus Upsala ein soziales Projekt ist. Das Zelt verwandelt sich in einen Raum voll von Emotionen, Fröhlichkeit und Energie. Die Vorführung unterscheidet sich von den uns vertrauten Darbietungen, ein sprudelndes Kaleidoskop verschiedener Gattungen, Pantomime, Akrobatik-Künste, Jongleure, Tänze, usw. Beim Verlassen des Zeltes erfüllt die Zuschauer ein glückliches Gefühl und die Gewissheit, dass auf dieser Welt alles möglich, der Mensch ein starkes Wesen ist; dass jeder einzelne Talente besitzt und dass alle glücklich sein können.
Nach der Vorführung gewährt uns Larissa Afanasyewa ein Interview.
«Man muss ein wenig Hooligan sein, um den «Zirkus für Hooligans» leiten zu können».
Larissa Afanasyewa, ungefähr vierzig, sitzt am Tisch der kleinen Zirkusküche. Keinen Moment kann sie ruhig bleiben, sie ist dauernd in Bewegung wie Quecksilber. Larissa stellt die Klischees über das Sozialsystem und über die angeblich schwierige Arbeit mit Kindern auf den Kopf. Sei stellt uns den Zirkus Upsala vor und erzählt von den benachteilgten Jugendlichen, deren Status unveränderbar ist.
-Wie hat das Abenteuer Upsala begonnen?
«Alles hat mit einer Begegnung begonnen. Astrid Schom, eine deutsche Sozialarbeiterin in Sankt-Petersburg, hatte die Idee, die Strassenkinder mit Hilfe von Ballspielen wieder einzugliedern. Astrid suchte für dieses Projekt eine Leiterin, das war ich! Ich bin Regisseurin, ich habe ihre Idee für die Arbeit mit verlassenen Kindern hervorragend gefunden. Jaroslav Petr und Mitrofanov, zwei Zirkus-Profis, und ein Team von Sozialarbeitern haben sich uns angeschlossen. Upsala war geboren».
– Während ihrer Vorführung kommt so viel Freude von den Kindern, ein wahrer Energieausbruch, der durch den Saal brandet. Wie wählen Sie die jungen Artisten aus?
«Keinerlei Selektion. Dies ist unser Prinzip. Wir führen keine Castings durch. Unser einziges Kriterium ist: die Kinder müssen den sozialen Risiko-Gruppen angehören».
– Was verstehen Sie unter Risiko-Gruppen?
«Es sind dies Kinder und Jugendliche mit Alkohol- und Drogenproblemen. Sie kommen aus grossen Clans, auch Waisen gehören dazu. Das soziale Merkmal ist ihr tiefer Lebensstandard; sie sind unsere Zielgruppe. Ihre körperlichen und psychologischen
Fähigkeiten zählen bei uns nicht, sie sind Nebensache. Jegliche Person mit sozialem Risiko ist hier willkommen, mit ihr beginnen wir zu arbeiten, gründlich zu arbeiten. Unter unseren Schülern hat es auch schwierige Kinder aus Erziehungsheimen.
Jedes zukünftige Zirkuskind kommt mit seinem sozialen Gepäck zu uns, mit seiner schwierigen Vergangenheit. Es ist nicht leicht für sie, das gesteckte Ziel zu erreichen. Viele haben grosse Willenskraft; ihr Wunsch, den Hooligan-Status zu überwinden, ist gross.»
Das wichtigste ist die Motivation
– Welche Erfahrungen haben Sie bei der Arbeit mit den Strassenkindern bisher gemacht?
«Der Beginn des Zirkus war sehr schwierig. Die Strassenkinder hausten in Dachböden und in Kellern. Wir haben intuitiv zu verstehen versucht, wie die Zusammenarbeit mit den Kindern geht, wie sie zu motivieren sind.
Die Motivation, die Willenskraft anzustacheln, ist das schwierigste. Wie den Wunsch wecken, etwas erreichen zu wollen?»
– Und wie kann dieses Selbstwertgefühl gefördert werden?
«Die Entwicklung des Selbstwertgefühls führt über das Resultat mühevoller Arbeit. Schauen Sie, die Kinder kommen zum Zirkus, sie müssen arbeiten, arbeiten und noch einmal arbeiten. Die Proben finden fünf bis sechs Mal pro Woche statt, jedesmal zwei, drei, vier Stunden. Sie schwitzen, sie müssen weiterarbeiten. Und eines Momentes kreiren sie etwas cooles und urplötzlich ist alles anders. Ein Ruck geht durch sie hindurch, sie laden ihre Kameraden ein, um ihnen ihre Arbeit zu zeigen. Von diesem Moment an steigt ihr Ansehen stark. Aber dies alles wird nur durch Arbeit erreicht.»
«Natürlich haben nicht alle diesen eisernen Willen. Meistens beginnen wir mit rund vierzig Kindern. Diese Anzahl reduziert sich sehr schnell auf etwa zwanzig und bis Ende Jahr bildet sich der harte Kern von gut zehn dieser «schlechten Burschen und Mädchen», die bereit sind, sich bis zum Ende voll zu engagieren».
Seid aggressiv!
– Sie arbeiten mit schwierigen Kindern. Puschkin hat gesagt, dass «es nur Idioten und Kinder gibt, die boshaft sind.» Wie begegnen Sie dieser Boshaftigkesit, wie arbeiten Sie?
«Sehen Sie, ich denke, es ist seltam, wenn jemand überhaupt nicht aggressiv ist. Ich sage allen Kindern: seid aggressiv! Man muss diese Energie, diesen vitalen Antriebsfaktor in sich haben. Wir müssen diese Aggressivität jedoch in eine andere Bahn lenken.
Natürlich sind unsere Zirkuskinder aggressiv. Aber Vorsicht: welche Bedeutung misst man diesem Ausdruck bei. Wenn beispielsweise unsere Jugendlichen einen Kaukasier Hatschiki (eine herablassende Bezeichnung für Leute mit kaukasischem Ursprung) nennen, stelle ich sie zur Rede: Halt, halt, darüber müssen wir sprechen.
In der Tat hat dieser Ausdruck für sie keinen boshaften Charakter, sie brauchen ihn, weil sie ihn zu Hause, im Waisenheim oder auf der Strasse gehört haben. Für sie ist er normal, nicht aggressiv. Man muss nicht wütend werden in der Meinung, dass ihnen seit ihrer frühen Kindheit Rassismus eingeprägt wurde. Man muss ihnen aber den Sachverhalt erklären. Dies ist eine grundlegende Arbeit, die sich über eine lange Zeitspanne erstreckt, damit sie ihren rassistischen und hasserfüllten Reflex ablegen.»
Die verkümmerte Generation
– Ihr Zirkus besteht seit 2000, also bereits 13 Jahre. Haben die Strassenkinder immer noch dieselben Eigenschaften?
«Leider nein. Ich habe eine Beobachtung gemacht, die mich sehr beunruhigt. Als wir vor 13 Jahren die Arbeit mit den Strassenkindern begannen, fristeten diese Kerle ein sehr schwieriges Dasein; sie haben ihr Zuhause oder das Waisenhaus verlassen, um auf der Strasse Nahrung zu finden oder in irgendeiner sozialen Organisation Schuhe zu ergattern. Sie hatten schlicht nichts anzuziehen im Winter. Im Jahr 2000 waren sie kühn, laut, äusserst problematisch. Sie rauchten, konsumierten Drogen, aber die Kinder waren trotzdem, sagen wir, lebendig. Sie sind auf der Strasse aufgewachsen, ihr Körper-Tonus war unterschiedlich, sie waren Draufgänger, ja, aber sie waren in der Lage, Risiken einzugehen.
Heute treffen wir auf eine andere Generation, jene der Computer. Sogar die Ärmsten können einen Kredit aufnehmen, um sich einen Computer zu kaufen. Sie sitzen Stunden und Tage vor ihren Bildschirmen. Es ist paradox. Sie gehören doch Risiko-Gruppen an und sollten für ihr Überleben kämpfen, sie sind jedoch träge geworden mit ihren Computerspielen. Ich habe einige von ihnen getroffen und sie gefragt: Wer von euch ist schon einmal auf Garagedächern herumgerannt? Keiner. Wieviele von euch haben sich eine Hand gebrochen? Null. Es ist seltsam, wenn sich «Hooligans» nie eine Hand oder ein Bein brechen. Diese neue Risiko-Generation ist nicht etwa vorsichtig, sie ist verkümmert. Wie kann sie auf diese Art überleben?»
Der Altruismus, ein untaugliches Heilmittel
«Für mich ist die Idee, dass man einfach so kostenlos Brot erhält, unverständlich. Jeder muss etwas leisten, etwas erschaffen dafür. Ist man nicht bereit dazu, muss man sich zwingen. Es geht leider nicht anders. In den Sozialzentren fördert dieses Geben ohne Gegenleistung den Status des sozial Benachteiligten nur noch zusätzlich.
Bei uns kommt es gelegentlich ebenfalls zu solchen Situationen.
Stellen Sie sich vor: Ein Zirkuszelt, ein toller Lebensraum, die besten Lehrer, die besten Mitmenschen, Reisen nach England, Frankreich, Deutschland und in die Schweiz. Irgendwann sagen sich die Kinder «Waauu!», alles ist ja bestens.
Aber dies ist Blendwerk, eine Illusion. Wir müssen in diesen Momenten energisch reagieren, damit sie begreifen, dass die Realität ganz anders aussieht. Die guten Vorführungen, die sie produzieren, sind nur Dank ihrer Arbeit möglich. Nichts kommt von allein, nichts ist dauerhaft.»
Das System der Waisenhäuser in Russland ist eine Milchkuh
– Die Duma findet, dass man die Waisen nicht ins Ausland senden muss, da unsere Waisenhäuser sehr gut sind. Was ist ihre Ansicht?
«In Russland funktioniert das System der Waisenhäuser nicht. Ungeachtet der Qualität des Heimes können Sie sich schöne Möbel kaufen und gutes Essen anbieten, das System wird trotzdem nicht funktionieren. Das Waisenhaus stempelt die Kinder als Benachteiligte ab, es unterstreicht noch ihren sozialen Status. Als Folge davon sind diese Waisen nicht motiviert, unabhängig zu werden. Diese Einrichtungen zementieren lediglich die Logik der Armen und Unfähigen.
Ja, aus materielller Sicht hat sich vieles verändert, sogar das Essen ist normal geworden. Während langer Zeit waren die Kinder schlecht ernährt, schlecht angezogen, schmutzig, hatten Flöhe und die Gebäude fielen in sich zusammen. Dies hat sich geändert, im Grunde genommen verwandeln die Sozialarbeiter die Kinder aber weiterhin zu Gemüse. Das System der Waisenhäuser in Russland bleibt eine Milchkuh.»
– Anders ausgedrückt : anstatt neue Formen zu entwickeln, um die Waisen zu sozialisieren (mit Hilfe der Kunst, des Zirkus, des Theaters), produziert das System unverändert das alte Modell der Waisenhäuser weiter?
«Ja, genau.»
Reportage Natalia Nikolaeva
Sankt-Petersburg
Mai 2013