Ich hasse meine Familie

004_IKV_Sergej-019-1280x834Der berühmte Satz von André Gide aus seinem Buch „Die Früchte der Erde“ fasst den Leidensweg von Sergei Pokrovsky sehr gut zusammen.
Die durchgemachten Leiden haben ihm die harte Realität der russischen Sans-Papiers aufgezeigt.
Sergei Pokrovsky, 60 jährig, ehemaliger Schweisser, einst mit Svetlana verheiratet, erzählt uns seine Fahrt zur Hölle.
Dieses Portrait ist Teil der Serie „Monolog mit den Obdachlosen“ der Journalistin Anastasia Riabtseva.

Eine folgenschwere Abwesenheit
Sergei Pokrovsky, mit abgemagertem Gesicht, erklärt uns:
„Alles beginnt mit dem Tag, an dem meine Schwiegermutter Olga bei mir eintrifft. Sie war ausser sich. Noch nie hatte ich sie in einem solchen Zustand gesehen, sie, die sich so gut beherrschen konnte.
Später, zu spät, habe ich begriffen. Sie hatte eben ihre Arbeit verloren und brauchte einen Sündenbock: mich.“
Olga installiert sich bei Sergei in Schlüsselburg, einer kleinen Stadt von 15’000 Einwohnern in der Umgebung von St. Petersburg. Zur selben Zeit hat Sergeis Mutter in Novgorod Probleme mit der Gaszufuhr. Sie ist dringend auf ihren Sohn angewiesen.„Angesichts des Alters meiner Mama bin ich sofort losgefahren. Sie wusste nicht mehr, wie das Gas zu bedienen, es war gefährlich. Ich habe die Gaszufuhr in der Wohung abgestellt.
Die Nachbarin hat ihr einen elektrischen Kocher ausgeliehen. Als ich abends nach Hause fahre, ist die Wohnung rauchgeschwängert, ein richtiges Schlachtfeld. Mama hatte ihre Mahlzeit aufgewärmt und war dabei eingeschlafen.
Ich war gezwungen, meiner Arbeit in Schlüsselburg eine zeitlang fernzubleiben. Man konnte Mama nicht allein lassen.“
Die Gesundheit der Mutter verschlechtert sich, sie stirbt. Anlässlich der Totenwache stossen Sergei, seine Schwester und ihr Mann ausgiebig an und lassen die Verstorbene hochleben.
„Sie füllten mein Glas, immer wieder.“
Dann unterbreiten sie ihm Dokumente, die er unterschreiben muss. Ohne sich dessen bewusst zu sein, verliert er dadurch jegliches Anrecht auf die Wohnung seiner Mutter.

Die teufliche Schwiegermutter
Während seiner Abwesenheit von seiner Wohnung beginnen die Schwiegermutter Olga und deren Tochter Svetlana zu trinken. Zudem hetzen sie Sergeis Söhne gegen ihren Vater auf. Svetlana, Stilistin, verliert ihre Arbeit.
Sergei kehrt in seine Wohnung zurück. Statt ihn dort willkommen zu heissen, weigert sich die Familie, ihn einzulassen.
„Ich habe ihnen gedroht, die Wohung in die Luft zu sprengen.“
Meine Schwiegermutter hat geschrien und mich als Terroristen betitelt. Eine Nachbarin hat die Polizei gerufen. Spezialeinheiten der OMON sind gewaltsam und bewaffnet angerückt.
Der Kommissar kannte Sergei, sie haben zusammen auf einer Baustelle gearbeitet. Mit ihm konnte er wieder in seine Wohnung gelangen.
„Unter dem Tisch lagen vier volle Flaschen,“ erklärt Sergei. „Mit dem Kommissar hat er eine davon genommen, sie haben sich draussen installiert und der Kommissar hat zu ihm gesagt: „Trink!“
„Ich habe getrunken, mich beruhigt. Olga und Kompagnie haben mich in die Wohnung lassen müssen in der Überzeugung, dass ich den Polizisten bestochen hatte.“

Das Überleben von Tag zu Tag
Das erzwungene Zusammenleben war nur von kurzer Dauer. Infolge der Demütigungen, der verbalen Bombardierungen und der gehässigen Schweigen bricht Sergei zusammen. Er zieht nach St. Petersburg, wo er sich von einem Tag zum nächsten durchschlägt. Man findet ihn in der Umgebung des Spitals Botkinskaja, die Augen in schlechtem Zustand.
Ein Arzt pflegt dort die Obdachlosen.
Sergei wird ihn aufsuchen.
Die Ärzte setzen das schlechtere Auge „ausser Betrieb“ (Zitat). Für das andere, das noch ein wenig sieht, verschreiben sie ihm Medikamente.
„Ich habe diese genommen, bis ich auf eine protestantische Sekte stiess. Sie haben sich meiner bemächtigt und mir gesagt: komm zu uns, wir haben Arbeit, einen ruhigen Ort…“.
„Ich hatte keine Medikamente mehr und hätte regelmässig zum Arzt gehen sollen.“
Sie sagten mir: „Nein, nein, schau doch, schau doch“, bis sie feststellten, dass ich die Bibel verkehrt hielt. Innerhalb dreier Monate erblindete ich fast vollständig.“

Sergei macht sich keine Illusionen mehr.
„Das Schlimmste auf der Strasse ist die Einsamkeit“, sagt Sergei verbittert.
„Niemand braucht dich. Vorher musste ich mich um die Kinder kümmern, wenn sie krank waren, ihnen zu Essen geben, für eine neue Wohnung kämpfen. Jetzt braucht mich niemand mehr, ich bin inexistent.
Meine Schwester hat mich betrogen; meine Frau, meine Kinder, meine Schwiegermutter ebenfalls.
Ich habe nie an Selbstmord gedacht, vielleicht bedingt durch meine Erziehung. Das Leben ist uns nicht geschenkt dazu. Es ist nicht an uns zu …. Ich zweifle, dass eines Tages irgendwo wieder Gerechtigkeit herrscht. Ich schwöre es Ihnen: manchmal hat man wirklich Lust, ein gemeiner Kerl zu werden.

Was muss man dabei befürchten, wenn man sowieso nichts hat?“