12-01-14 Sotschi, die Kehrseite der Medaille

Olympische Masslosigkeit, medienwirksame Freilassung politischer Gefangener: für  Vladimir Putin ist zu Beginn des neuen Jahres alles recht, um für die Dauer der olympischen Spiele die autoritären Entartungen des Regimes zu verschleiern und die schwerwiegenden Menschenrechts-Probleme in Russland zu vertuschen.

In Russland hat das weisse Gold nicht für alle den gleichen Stellenwert

Je nach Ort gelobt oder gehasst, er bestimmt den Alltag tausender Personen. Er? Der Schnee.

Während er in Sotschi wie eine Göttin verehrt wird, nennt man ihn in Sankt Petersburg den  weissen Tod.
Es fällt nicht schwer, das Budget der Winterspiele in Sotschi mit demjenigen zu vergleichen, das die Stadt Sankt Petersburg für die Errichtung von Unterkünften vorsieht, um die Obdachlosen  aufnehmen und sie gegen die grosse Kälte zu schützen.
Zwei Realitäten, zwei diametral verschiedene Kräfteverhältnisse.
Auf der einen Seite 36 Milliarden Franken und mehr, um Vladimir Putins unermessliche Ambitionen befriedigen zu können, auf der andern Seite gar nichts. Kein Kopeke ist für die Winterhilfe 2013-2014 in Sankt Petersburg budgetiert.
Dies trotz der Tatsache, dass in dieser Stadt im letzten Winter nach offiziellen Angaben 1’042  Personen erfroren.
Angesichts einer derartigen Gleichgültigkeit hat die russische Nichtregierungs-Organisation Nochlezhka an strategischen Orten erneut zwei Zelte aufgestellt, welche von der Armee gekauft wurden und die Aufnahme von je sechzig Personen erlauben. Nochlezhka hilft seit über zwanzig Jahren den russischen obdachlosen Sans-Papiers.
Lesen Sie dazu die Nachricht «Unterstützen Sie das Überlebens-Zelt».
Desinteresse Verwaltung
Diese Einrichtungen sind äusserst sinnvoll, da die Wintertemperaturen in Sankt Petersburg bekannterweise bei Werten von über fünfzehn Grad unter dem Gefrierpunkt verharren und zusammen mit der hohen Luftfeuchtigkeit unter den Obdachlosen schlimme gesundheitliche Schäden verursacht.
Girgory Sverdlin, Direktor von Nochlezhka, erklärt uns zu dieser Tatsache:
«Damit die Obdachlosen den Winter mit einem minimalen Schutz verbringen und damit schwere Schäden durch die Kälte vermieden werden können, müsste man mindestens in jedem Stadt-Bezirk ein Zelt aufstellen. Dies unabhängig davon, wer sich um die Organisation kümmert (die Bezirks-Verwaltung, das Komitee für Notfall-Situationen oder die Armee). Ziel wäre, dass sich die Obdachlosen nicht jede Nacht als ihre letzte befürchten müssen».
Dies wird jedoch nicht der Fall sein, einzig die Überlebens-Zelte von Nochlezhka werden diesen ausgestossenen Bürgern Hilfe leisten.
Im Innern der Zelte finden sie Wärme, Elektrizität, täglich zwei warme Malzeiten, erste Hilfe und juristischen Rat, um zu versuchen, ihre Ausweis-Papiere wieder zu erhalten.
Im vergangenen Winter haben 558 Personen Zuflucht gefunden, entsprechend einem Total von 4’926 Übernachtungen; 497 dringende medizinische Fälle konnten behandelt werden.
Der Gipfel des Zynismus
Das Schicksal dieser zweitrangigen Landsleute wird sich in nächster Zeit nicht verbessern. In der Tat wurden die Bürgerrechte noch nie dermassen eingeschränkt wie seit Beginn des dritten Mandates von Vladimir Putin.
Mehrere diskriminierende Gesetze sind seither eingeführt worden: im Juni 2012 das Gesetz betreffend die öffentlichen Versammlungen, im Juli 2012 jenes, das jegliche Kritik am Staat bestraft sowie im Juni 2013 das Gesetz,  welches die homosexuelle Propaganda verbietet.
Um dieses juristische Unterdrückungs-Arsenal zu ergänzen, wurden auf dem Gebiet der Russischen Föderation Lager eingerichtet, welche den berühmt-berüchtigten Gulags ähnlich sind.
Zur Zeit stehen die russischen Sans-Papiers in ihrem eigenen Land im Kreuzfeuer einiger eifriger Funktionäre.
Die Grundidee dazu ist äusserst einfach: die obdachlosen Sans-Papiers sollen gezwungen werden, wieder ein normales Leben zu führen. Lesen Sie dazu «Lager für die Sans-Papiers».
Diese Vorgehensweise ist nicht neu
2010 hat der Verantwortliche des Expertenkomitees für die Sozialpolitik der Stadt Sankt Petersburg, Sergei Yurievitsch, diese Methode bereits befürwortet.
Kürzlich hat der Urheber des Gesetzes zur Kriminalisierung der Homosexuellen, der russische Abgeordnete Vitaly Milonow, diese Idee übernommen.
Schliesslich war Ende 2013 die Reihe am Departementchef-Stellvertreter des  Sozialschutzes der moskauer Bevölkerung, Andrei Beschtanschko, einen Vorschlag für ein Bundesgesetz auszuarbeiten:
– « Im Allgemeinen sind sich die Obdachlosen daran gewöhnt, auf der Strasse zu leben, den  Sozialarbeitern gelingt es nicht, sie davon zu überzeugen, wieder ins normale Leben zurückzukehren. Man muss also radikalere Mittel anwenden, d.h., verlassene ehemalige Kolchosen wieder öffnen, um darin Schlafsääle einzurichten und die Obdachlosen dorthin umzusiedeln».
So weit sind wir also gekommen,  Vladimir Putin wird strahlend seine Spiele eröffnen, der russische Präsident wird aber kaum eine Medaille gewinnen, die ihn für Verteidigung der Menschenrechte auszeichnet.