Als Fortsetzung der Gesprächsreihe mit Persönlichkeiten über das Thema Obdachlosigkeit in Russland hat Nochlezhka kürzlich den Schauspieler Andrei Urgant interviewt.
Andrei Urgant ist ein renommierter Schauspieler, unter anderem bekannt für seine beissenden Sketches.
„Gar nicht schlecht, dass es Leute gibt, die andern helfen“.
Nochlezhka: Ich möchte Ihnen die Geschichte eines Obdachlosen erzählen, der zur Zeit in der Betreuungsstelle von Nochlezhka lebt. Nikolai, 43 Jahre alt.
Vor drei Jahren hat er die Wohnung der Familie verkauft, um damit die Operation seiner Mutter bezahlen zu können. Leider starb die Mutter eine Woche nach der Operation.
Ohne Wohnung verliert er sein Propiska, und ohne Propiska ist es sehr schwierig, eine stabile Arbeit zu finden.
Nikolai hat sich mehrmals betrügen lassen: er hat seinen Lohn nicht erhalten. Dazu hat er sich auf einer Bausteller schwer verletzt. Ohne Ausweise aber keine Versicherung.
Heute ist er also bei uns und unsere Juristen helfen ihm, eine Invalidenrente zu erhalten.
Was meinen Sie dazu?
Andrei Urgant: Eine übliche Tragödie, leider wie gewohnt. Die Arbeitgeber profitieren von der Situation, sie wollen den Lohn nicht bezahlen, der „amtlich normalen Bürgern“ geschuldet wäre. Ihre Begründung: „Sie erhalten einen zehnmal tieferen Lohn, weil Sie nicht registriert sind“.
Ihrer Ansicht nach sind Geschäftsleute eher Schurken. Aber sind Sie sicher, dass diese Fälle echt sind?
N: Ja.
AU: Handelt es sich nicht um einen Alkoholiker, einen Drogensüchtigen?
N: Nein. Nochlezhka überprüft die Geschichten, welche die Leute uns erzählen, stets via unseren Sozial- und Rechtsdienst. Wir recherchieren. Es kommt selbstverständlich vor, dass man uns Lügen vorsetzt, im Fall von Nikolai ist dies aber nicht der Fall.
„In der Tat kenne ich mich beim Thema Obdachlosigkeit nicht aus“.
AU: Es ist doch eigentlich merkwürdig, dass ein Mann bei Ihnen landet und angibt, ich komme aus einer andern Stadt, ich habe meine Wohnung verkauft, meine Mutter ist tot, ich habe keine Identitätspapiere mehr. Helft mir!
N: Was wollen Sie damit sagen?
Sie machen nicht den Eindruck, gut über unser Sozialsystem und über die Registrierung der Bürger dieses Landes informiert zu sein.
AU: Das stimmt, ich kenne es nicht.
N: Die Leute glauben oft, dass der Obdachlose gezwungenermassen selbst für seinen Zustand verantwortlich ist. Dies ist aber bei weitem nicht so einfach. Das Problem dabei ist, dass er administrativ nicht existiert.
AU: Ah, wir wechseln das Thema und sprechen über Politik, über das System.
Vor dreissig oder vierzig Jahren triumphierte der Sozialismus. Weshalb kümmert sich der Staat heute nicht um die Leute, um ihr Leben?
N: Gute Frage.
AU: Ja, diese Trägheit, dieser juristische Analphabetismus, dieser Mangel an Sensibilisierung für die Gesetze existiert bei den Politikern und den Beamten. Ja, aber lassen Sie sie arbeiten, geben Sie ihnen doch Zeit, zehn Jahre. Es gibt doch mindestens ein wenig Hoffnung, dass sich dies ändert.
Das Problem ist, dass wir unsere Gesetze nicht kennen! Wir ignorieren sie. Wir kennen die Multiplikationstabellen und wissen, dass Alexander Griboiedov die Komödie Wehe dem Verstand geschrieben hat.
Aber dies bedeutet nicht, dass das Volk für seine Unwissenheit veranwortlich ist.
„Die Güte, das Mitgefühl, das Verständnis sind nicht in der Verfassung verankert“.
N: Wir sind alle verschieden. Das grossse Problem ist, dass hier alles mit der Registrierung zusammenhängt. Ohne sie ist es sehr schwierig, denen zu helfen, die ihr Leben ändern wollen.
AU: Ja, mein Herz leidet für diese Personen, die Sie erwähnt haben. Ich bin selbst ein unwissender Mensch, ich kenne die Gesetze nicht, weil ich mein Leben lang leider annahm, dass sie in diesem Land nicht respektiert würden.
Ich spreche nicht von den Gesetzen in der Verfassung, ich denke an die Güte, an das Mitgefühl, an das Verständnis. Es ist doch unnötig, diese Gefühle zu Papier zu bringen, man muss nicht beweisen, dass man ehrlich und aufrichtig ist.
Das einzige Mittel, in spezifischen Fällen zu helfen, ist auf spezifische Art zu reagieren.
„Trotz dieser Ungerechtigkeiten funktionniert es“
Ich will die Beamten nicht belästigen oder sie überzeugen, das System zu ändern. Ich weiss übrigens gar nicht, wie ich mit ihnen Kontakt aufnehmen kann, wie mit ihnen zu sprechen. Ich kann nicht mein Leben damit verbringen, die Gesetze in diesem Land zu ändern.
Wenn ich feststelle, dass ich Geld ausgeben kann, um jenen zu helfen, denen niemand hilft, dann mache ich das. Ich habe keinerlei Nutzen davon, keine Werbung, nichts. Ich weiss, dass wir uns gegenseitig helfen können.
Wir können uns auch über die Gesetze informieren und unsere Rechte einfordern. Trotz dieser Ungerechtigkeiten funktionniert es doch, sonst wäre der Staat schon lange zusammengebrochen.
N: Wer müsste uns Gefühle wie die Barmherzigkeit, das Mitleid, die Hilfe für den andern beibringen? Die Familie, die Schule, die Medien? Und auf welche Art und Weise?
AU: Vor allem die Familie. Es gibt aber Familien, die gestört funktionieren. Wir wissen auch, dass es wunderbare Familien gibt mit herrlichen Kindern.
Aber oft sind die Eltern nicht bereit, ihre Verantwortung zu übernehmen.
„Helfen geschieht nicht mittels Geld“
N: Wenn die Leute ihren Platz im Leben infolge einer inneren Kluft aber nicht finden könnnen, hat dies auch seine tieferen Gründe.
AU: Ja, es bleibt aber zu hoffen, dass dieser Person jemand sagen wird: Es wurden Bücher geschrieben. Ich spreche nicht von Religion, sondern über das Gewissen. Für mich ist Gott das Gewissen.
Hilfe geschieht nicht mittels Geld. Ich habe Geld, aber ich gebe nie Geld.
Kein Problem dagegen, einer Person zu Essen zu geben, ihr zu ermöglichen, sich zu waschen, mit ihr zum Arzt zu gehen, ihr eine therapeutische Behandlung zu bezahlen. Lediglich Geld zu geben, ist gefährlich. Dadurch würde man die Person auf den falschen Weg bringen.
Ich glaube an diese Prinzipien und versuche, diese Prinzipien meinen Nächsten näher zu bringen.
Viele meiner Freunde beteiligen sich an der Wohltätigkeit. Sie geben aber kein Geld direkt an Bedürftige und wollen auch nicht, dass ihre Namen genannt werden.
Das Interview, das ich Ihnen gebe, erlaubt Ihnen, ihren Bekanntheitsgrad zu erweitern, dass mehr Leute Sie kennen.
N: Es zeugt von Verantwortung und sogar von Weisheit, wenn berühmte Leute den richtigen Ton finden, um über Wohltätigkeit zu sprechen, damit sie nicht davon profitieren, sondern ihren Bekanntheitsgrad dazu benützen, um das Thema bekannt zu machen.
„Unser Land lebt weiterhin unter einer Art von aristokratischem Regime“
AU: Einen lauten Aufschrei muss ich hier ausstossen. Unmöglich, stumm zu bleiben. Einige Kinder reicher Leute wissen schlicht nicht, wie diese Leute leben.
N: Das stimmt.
AU: Ich bin sicher, dass zahlreiche Mitglieder unserer Regierung keine Ahnung davon haben, wie man bei uns normalerweise lebt. Sie haben einen Dienstwagen, freie Strassen, keine Staus. Sie wissen nicht einmal, dass ein anderer Alltag existiert.
Hoffen wir wenigstens, dass sich diese Politiker der Realitäten manchmal bewusst sind. Unser Land lebt weiterhin unter einer Art von aristokratischem Regime, mit Kasten.
Die Geschichte wiederholt sich: sobald man an die Macht gelangt, vergisst man „die da unten“. Dies wiederholt sich seit tausenden von Jahren, es ist Teil der menschlichen Natur.
„Wir zerstören alles Leben“
N: Ein anderer Aspekt der menschlichen Natur ist die Barmherzigkeit, die Anteilnahme, die Hilfe für andere.
AU: Der Mensch ist die paradoxalste Kreatur auf dieser Erde. Das Schlimmste ist das Schönste. Wir zerstören, was wir aufbauen. Wir zerstören alles Leben.
Die Wälder, die Fische, die Hirsche, die Dachse, die Pilze, alles, was die Natur uns gibt. Töten!
Unsere Geschichtsbücher sollten sich von den Alten, von der Architektur, der Skulptur, der Malerei, der Poesie und der Prosa inspirieren lassen. Die Phantasie der Künstler schafft eine bessere Realität als Tatsachen und nackte Zahlen.
Nehmen Sie den Lehrer, der vor die Klasse tritt und je nach Epoche zu den Schülern sagt: „Öffnet das Geschichtsbuch auf Seite 32, wo sich das Porträt von Blücher befindet“.
Er sagt zu ihnen: „Dieser Kerl ist ein Volksfeind“. Die Kinder lachen und reissen das Bild des Marschalls heraus. Fünfzig Jahre später ist Blücher rehabilitiert.
Und der Lehrer oder sein Nachfolger sagt: „Klebt das Porträt von Blücher wieder ins Buch“. Weshalb ist dieses Geschichtsbuch nötig, wenn man hineinklebt, was man will?
„Dank der Literatur kann man alles lernen“
Aber im „Eugen Onegin“ ändert man nichts, der ist unveränderlich. Die Philosophie des Adels, der Lebensstil der einfachen Leute, die russische Lebensweise, die Traditionen, die Märchen, ja sogar wie man Konfitüre einkocht, alles lernt man Dank der Literatur.
Ich weiss alles von Gogol, von Puschkin. Und auch über die Tiere, weil ich Witali Bianchi gelesen habe. Und über die Liebe habe ich Tolstoi gelesen. Und was gibt es besseres als Dostojewski, um die Sünden der menschlichen Seele zu kennen.
N: Welche Rolle spielt die Literatur in der Gesellschaft heute?
AU: Eine enorme Rolle und gleichzeitig eine geringe, weil wir wenig lesen.
Eine grosse Rolle, weil wir dank diesem kleinen Gegenstand unser Leben und unsere Gesellschaft verstehen können. Die Familie kann dabei ebenfalls helfen, aber nicht nur Mama und Papa. Dies kann zu Hause geschehen, aber auch in der Schule, auf der Strasse. Die Strasse lernt die Armen Kollektivismus und Solidarität.
Die Helden des zweiten Weltkrieges wurden nicht zu Helden wegen Papa und Mama, sondern weil sie ihr Leben für das Vaterland geopfert haben.
Um auf Nikolai, den Obdachlosen in ihrem Beispiel zurückzukommen, ist das wichtigste, dass er weiss, dass er nicht allein dasteht, sondern dass Leute ihm helfen können.