Die russischen Märchen

Wie sich das aktuelle Tagesgeschehen, in diesem Fall Boris Nemtsows Ermordung und die Krise in der Ukraine, eine Konferenz über russische Märchen beeinflussen kann.
Im Ramen des Projektes «Open library» fand am vergangenen 28. Februar in der Bibliothek Majakowski eine Diskussion statt. Teilnehmer waren der Direktor der Eremitage, Herr Piotrowski, der Kulturminister, Herr Medinskii, und der Chefredaktor von TV Echo Moskwi, Herr Wenediktow.

Der Mord vom Vortag aktualisierte auf dramatische Art und Weise die Symbolik der russischen Märchen. Sie können das Treffen live verfolgen. Link

von links nach rechts Alexei Venediktov et Michael Piotrowski

                                      Alexei Venediktov und Michael Piotrowski

Katharina Gordeieva, Journalistin:
– Ich gebe zu, dass wir nicht die Absicht hatten, unseren Tag so zu beginnen. Wie Sie wissen, wurde vergangene Nacht Boris Efimowitsch Nemtsow ermordet. Er war Abgeordneter, Gouverneur von Nischni Nowgorod, Vize-Premierminister, Oppositionspolitiker. Er war einer der fröhlichsten, sozusagen der sorgloseste russische Politiker. Vielleicht müssten die Politiker so voller Lebensfreude sein statt so aggressiv.
Ich lade Sie zu einer Schweigeminute zu seinem Gedenken ein.
Es wäre in der Tat seltsam, eine Diskussion über die russischen Märchen zu beginnen, ohne zu erwähnen, was uns bewegt und jeden von uns hier in diesem Saal betrifft. Wie kann man in einem Land leben, wo wenige Schritte vom Roten Platz entfernt ein Politiker ermordet wird?

Die Banalisierung des Todes

Wenediktow – Man muss weiterleben. Man tötet jeden Tag neben uns zwei Brudervölker… Es ist Krieg und dies ist ausreichend. Der Krieg ist allgegenwärtig und die Banalisation des Todes beeinflusst den kulturellen Code der Nation. Man gewöhnt sich an all das. Nemtsow war sicher eine sehr bekannte Persönlichkeit, aber in 2 Tagen wird die Welle der Emotionen verebben und er wird als Politiker vergessen sein.
Das Schlimmste dabei ist, dass wir uns daran gewöhnt haben.
Das Ziel der griechischen Tragödie war die Reinigung, auf sie folgte eine Katharsis. Erinnern wir uns daran. Wir versuchen zu vergessen, denn dies ist bequemer. Dies ist das Hauptproblem. Es sterben weiterhin Menschen – 50m vom Kreml entfernt und 500km. Wer hier erinnert sich der Boeing*? Wieviele Personen sind im Südosten der Ukraine, in Odessa, umgekommen? Man erinnert sich nicht mehr daran. Das ist das tatsächliche Problem.

* Der Flug der Malaysia Airline MH17 von Amsterdam nach Kuala Lumpur zerschellte am 17. Juli 2014 in der Region von Donetsk, im Osten der Ukraine. Keiner der 283 Passagiere und 15 Besatzungsmitglieder der   Boeing 777-200ER überlebte. Die ukrainische Armee und die pro-russischen Separatisten beschuldigen sich gegenseitig, das Flugzeug abgeschossen zu haben.

Journalistin – Ist dieser Gedächtnisverlust ein weltweites Problem oder nur ein russisches?

Wenediktow – Weltweit, aber hauptsächlich in Russland, wo der Wert eines Menschenlebens stets unbedeutend war. Unser kultureller Verhaltenscode ist 300 – 700 Jarhe alt und patriarchalisch. Der Staat war immer, in all den Epochen, mehr wert als der Mensch.

Piotrowski – Leider ist dies Bestandteil der «russischen Märchen». Nicht nur bei uns hat sich das Heldentum verändert. Man stellt eine totale Abwertung des Humanismus fest, alle Kriterien verlieren an Wert. Die Abwertung betrifft sogar das menschliche Leben und unsere Fähigkeit, die Ereignisse treffend beurteilen zu können. Ich weiss wirklich nicht, was man dagegen machen muss.

Medinskii – Ich möchte unser Treffen nicht in eine politische Versammlung umwandeln, ursprünglich…

Journalistin – Ja doch, es geht um die Geschichte eines Mannes. Wir haben zusammen gelebt, wir haben gesehen, wie er Abgeordneter wurde, anschliessend Gouverneur, Vize-Präsident.

Medinskii – Aus menschlicher Sicht ist dies eine Tragödie und Sie haben recht, mit einer Beileidsbezeugung zu beginnen. Man kann verschiedene politische Überzeugungen und Aktivitäten haben. Ich denke jedoch nicht, dass Russland bezüglich der Verachtung von Menschenleben eine Ausnahme darstellt. Ganz einfach: wir leben hier und es scheint uns, dass alles, was sich hier ereignet, schlimmer sei als anderswo.
Das Problem des Terrorismus ist kein rein russisches Problem. Man könnte bei den Attentätern und den Auftragsmördern beginnen, diese haben stets die Menschheit begleitet. Mit der Globalisierung und der globalisierten Information wird es immer schrecklicher.

Jedes Volk hat seine Geschichte, seine Märchen

Journalistin – Und unser nationaler Grössenwahn, der Begriff des Volkes als Träger von Gott, wer hat besondere Werte? Ist dies nicht unsere eigene, rein russische Geschichte? Denken Sie, dass die Globalisierung der Information und das Zusammenrücken der Welt das Märchen betreffend der Eigenheit des russischen Volkes ausnivelliert hat?

Medinskii – Ich bin überzeugt, dass jedes Volk sich unterschiedlich und speziell einschätzt. Ich werde keine Beispiele nennen… aber die Vereinigten Staaten… und die Japaner und ihre Geschichte.

Wenediktow – All dies ist uninteressant. Ich frage mich, welche Märchen-Gestalt Nemtsov gewesen wäre. Jedes Volk hat seine Geschichte und seine Märchen, die seinen Weg widerspiegelt, aber oft bilden diese Wege ein untrennbare Einheit.

Es gibt Märchen, Mythen, Fantasiestücke wie zum Beispiel unsere Vorstellungen, was sich während der verschiedenen Epochen bis zum heutigen Tag ereignet hat; oder was aus der Epoche Putin oder nach ihm werden wird.
Man hat uns aber beigebracht, dass man Augenzeugen nicht glauben soll. Ich sage zum Beispiel, dass der Minister ein Dunkelmann und seine Kulturpolitik aufklärungsfeindlich ist.

Journalistin – Dies ist aber gewagt.

Wenediktow – Ich bin hier neben ihm als Soldat, der gegen all das kämpft. Aber dies ist meine Ansicht der Sache, Sie können eine andere haben, eine ganz verschiedene. Ich kann Ihnen ein Geheimnis verraten: ich habe einmal den Präsidenten gefragt, wer sein bevorzugter Herrscher sei. Katharina II, hat er gesagt. Wärend ihrer Herrschaft floss weniger Blut, aber mehr Handlungen wurden realisiert.

Journalistin – War dies der aktuelle Präsident?

Wenediktow – Ja, der heutige.

Journalistin – Ich habe den Eindruck, dass unser Staat immer die Idee unseres Messianismus verfochten hat.$
Auf dem Bildschirm: ein Film über das «Siegesvolk», die Befreierin, die den Krieg gewonnen hat. Das Volk besteht aber aus Leuten, die ganz verschieden sind.  Wie kommt es dazu, dass diese Leute, ihre herausragenden Taten, ihre Ideen, ihre Selbstidentifikation in der grossen Staatspolitik nicht in Betracht gezogen werden?
Unsere Kulturpolitik wird von oben bestimmt, durch Gesetze sowie durch ein hervorragendes Dokument, welches von uns allen erarbeitet und verabschiedet wurde.

Medinskii – Ja, «Die Basis der Kulturpolitik».

Journalistin – Das Volk wird durch die Massen gebildet, trotzdem ist es die Geschichte der einzelnen Personen: jener, die sich dem Feind nicht ergeben haben, die sich selbst übertroffen, ihre Familien gerettet haben…

Medinskii – Das ist klar: das Volk, das sind die Leute, ihre Handlungen, das Ergebnis der gemeinsamen Tätigkeiten. Es existieren im Volk aber zwei Lager: das aktive und das passive.
Die Revolution wird durch die aktiven Leute ausgelöst. Bei uns ist der Begriff «das Volk hat gesiegt» aufgetaucht, als man begonnen hatte, den Vorrang der kollektiven Anstrengungen gegenüber jenen der Einzelpersonen hervorzuheben. Auslöser war aber immer eine persönliche herausragende Leistung, die in der Folge von der Menge übernommen wurde.

Die Revision der Geschichte?

Journalistin – Wer ist durch unsere neue Kulturpolitik und die Revision der Geschichte anvisiert?

Medinskii – Diese Revision der Geschichte existiert nicht, dies ist reine Einbildung. Wir versuchen, die Wahrheit zu sagen. Die Beurteilung der Geschichte ist immer eine Art historisches Pendel.
Während der sowjetischen Epoche stand es auf der einen Seite. Anschliessend wollte man etwas anderes lernen und man hat Missbrauch betrieben, das Pendel ist auf die andere Seite geschwungen. Und heute schwingt es wieder zurück, das ist ganz normal.

Wenediktow – In welche Richtung, zurück in die sowjetische? Um wieder ein einziges Schulbuch zu haben, eine Wahrheit, eine Einheit?
Es gibt eine Vielzahl von Tatsachen, man müsste nur den Zugang dazu sicherstellen. Aber statt die Archive zu öffnen, verschliesst man bei uns all jene wieder, die von Jelzin per Dekret zugänglich gemacht wurden. Was ist passiert? Man sperrt Wissen ein. Man lernt die Geschichte durch Filme, die Jungen durch die elektronischen Spiele…

Piotrowski – Wenn wir von der Geschichte sprechen und von seiner Interpretation, können wir das Beispiel von Alexander Newsky nehmen und vom Reich der Zolotaya Orda (Reich der Goldenen Horde).
Er hatte 3 Alternativen:
1) jeder kämpft für sich, mit der Perspektive, total vernichtet zu werden
2) ein Allianz mit dem Westen mit dem Ziel, zu widerstehen und seine Identität zu behalten
3) versuchen, das Gleichgewicht zwischen dem Osten und dem Westen aufrecht zu erhalten und so seine Identität bewahren zu können.
Diese Variante hat er gewählt.
Er bewahrte die Religion, die Sprache und die Autonomie. Es ist Alexander Newsy zu verdanken, dass wir heute ein grosses Land mit seinem immensen Territorium haben. Ohne das würden wir nicht existieren.

Wenediktow – 1941 hatte der Gouverneur von Rostov vorgeschlagen, den Deutschen Brot zu liefern und ihnen Steuern zu bezahlen, um Repressionen zu vermeiden. Sind das unsere heutigen Helden, hervorgegangen aus der imaginären Einbildung? Russische Märchen?

Medinskii – Das ist lächerlich.

Journalistin – Ganz und gar nicht. Jede Macht schreibt die Geschichte neu, geleitet durch ihre eigenen Interessen.

Piotrowsky – Es gibt die wissenschaftliche Geschichte und die publizistische Geschichte. Jede Epoche hat eine verschiedene Einschätzung. Das Ziel unserer historischen Darlegungen ist die Versöhnung der Leute.

Die kulturelle Ideologie finanzieren

Journalistin – Und welche Art von zukünftigen Aktionen sehen Sie in der rapiden Isolation, in der sich Russland befindet?

Piotrowsky – Ich sehe keine Isolation, ich habe mehrere Reisen vor (Oman, London, USA). Noch eine Bemerkung, es gibt kein Zurück.

Medinskii – In der Welt der Kultur kann man wirklich nicht von einer Isolation sprechen. Jede Woche haben wir Aktionen und internationale Treffen.

Wenediktow – Die Gesellschaft muss gemäss ihrer Interessen den Staat beeinflussen.

Piotrowski – Den Staat oder die Administration des Staates beeinflussen?

Journalistin – Welches ist als Minister ihre Rolle, die Kulturpolitik des Landes zu definieren oder sie zu leiten?

Medinskii – Sie wird durch das oben erwähnte Dokument definiert, unsere Aufgabe ist es, sie auszuführen. Sie ist ausgiebig diskutiert und anschliessend durch den Präsidenten genehmigt worden.

Wenediktow – Wenn ich von undurchsichtiger Politik spreche, meine ich den Politiker im Amt, der vom Präsidenten einen Auftrag erhalten hat und sich die Entscheide herausnimmt, was gut und was schlecht ist.

Medinskii – Kultur ist ein Begriff, der viel umfassender ist als die Gesamtheit der kulturellen Institutionen. Sie beinhaltet auch die Erziehung und die Medien. Der Staat muss sie unterstützen und ihr gegenüber aufmerksam sein.

Journalistin – Im Ministerium zirkuliert eine Liste von Filmen, welche Sie zu finanzieren beabsichtigen. Die Themen: die Helden des Kampfes gegen die Korruption, positive Beispiele. Helfen diese Themen bei der Zuteilung der bewilligten Finanzierungen?

Medinskii – Seit einiger Zeit haben wir einen offenen und verständlichen Prozess: man gibt die prioritären Themen bekannt, man erhält die Projekte zu diesen Themen (der Kampf gegen die Korruption, das Problem der Nation, die Werte der Familie, der 70. Jahrestag des Sieges) oder auch zu andern Themen.

Darauf folgt eine öffentliche Diskussion darüber, die manchmal vom Fernsehen übertragen werden. Anschliessend gibt es eine offene Abstimmung, gefolgt von der Entscheidung, welche Projekte vorgeschlagen werden.

Journalistin – Aber so finanzieren Sie trotzdem die Ideologie und nicht die Kultur.

Medinskii – Wie ich Ihnen gesagt habe, wurde der Prozess geändert, es gibt eine offene Präsentation.

Journalistin – Aber es gibt trotzdem ein Element von «russischem Märchen» in der Tatsache, dass das Ministerium entscheidet, was man sehen und wer das Geld erhalten wird.

Piotrowski – Das «russische Märchen» existiert und wird immer existieren sowie auch die Kultur und die Filme, welche mit oder ohne finanzielle Hilfe durch das Ministerium produziert werden
Die Kultur ist viel umfassender als das Kulturministerium. Es ist der wichtigste Teil des Funktionierens der Gesellschaft, was uns von den Tieren unterscheidet. Ob es Geld gibt oder nicht, Sokurow wird weiterhin seine Filme produzieren.

Die dort drüben, die haben einen schwarzen Präsidenten

Journalistin – Seine Filme werden nicht in die russische Sprache übersetzt, wir werden sie deshalb nicht sehen können.

Wenediktow – Man hat Ihnen doch bereits erklärt, dass Sokurow zuwenig Talent hat und seine Filme wenig repräsentativ sind.

Piotrowski – Nicht das Ministerium, sondern das Publikum urteilt. Man darf aber nicht vergessen: das Publikum terrorisiert die Kultur.

Journalistin – Früher wurde ihr «Echo von Moskau» als freies Radio betrachtet, heute beschuldigt man Sie, sich mit der Macht zu arrangieren.

Wenediktow – Ja sicher, man arrangiert sich mit dem Terror des Publikums.

Journalistin – Müssen Sie bestimmte Dinge opfern, um ihr Radio und ihre Angestellten behalten zu können?

Wenediktow – Man weiss nie, was unabwendbar sein wird, man darf einfach nicht daran denken. Wir haben Zuhörer verloren wegen dieser allgegenwärtigen Intoleranz und Psychose. Die Leute wollen nicht hören, was sie nicht hören wollen. Die Leute sind zu stur, entweder ausschliesslich «liberal» oder folgen nur der staatlichen Linie. Wir, wir sind Universalisten. Wie in einer Bibliothek, wo man hineingeht und das Buch auswählt, das man benötigt.

Journalistin – Der Staat ist verantwortlich für die aktuelle Aggressivität. Wäre es nicht Aufgabe des Ministeriums, das Niveau dieser Aggressivität zu senken? Wenn sich alle hassen, spricht man nicht mehr von Kultur, sondern nur von den Mitteln, wie man ein Massaker verhindern könnte.

Medinskii – Dies ist genau unser Ziel. Unsere Programme mit klassischer Musik…

Journalistin – … die nicht funktionieren. Ich steige in die Metro ein, die Leute sind ekelhaft, die Massnahmen wirken nicht.

Medinskii – Die Anzahl Konzerte hat 2014 um 18% zugenommen.

Journalistin – Wenn man die ausländischen Filme verbietet, wird es noch besser werden.

Medinskii – Die «Oscars» sind keine Messlatte für das Talent, es ist ein rein amerikanischer Preis. Wir haben nicht den totalen Wohlstand, auch nicht das grosse Glück für jedermann, aber wir haben die musikalische Erziehung für Kinder, Kinderchöre, etc.
Welches andere Land kann sich rühmen, all das zu haben? Ich will keine Diskussion nach der Art «während man bei jenen dort die Schwarzen tötet».

Wenediktow – Die dort drüben haben einen schwarzen Präsidenten.

Medinskii – Und man bringt unter anderen Präsidenten und Kandidaten für das Präsidentenamt um, nicht nur ehemalige Polizisten. Das ist tragisch.