05-08-16 Waise wider Willen

Irina Koldina„Ohne Ausweis ist man nichts. Und ich kann meinen vierzehnjährigen Sohn Maxim nicht zurückholen. Er befindet sich im Waisenheim“, erklärt uns Irina Koldina.

 

Die Geschichte von Irina Koldina, 45, ruft uns einmal mehr die erbarmungslose Spirale in Erinnerung, welche die russischen Bürger ohne Ausweise in eine kafkaische Welt mitreisst.

 

Irina Koldina ist in Omsk geboren. Sie war elf Jahre alt, als ihr Vater starb, zweiundzwanzig beim Hinschied ihrer Mutter.

Irina trauert ihrer Mutter, die sie misshandelte, nicht nach.

 

Am Tag der Hochzeit mit Koldin Gennady ist sie dreissig Jahre alt.

 

2002 kommt Maxim zur Welt, 2008 trennt sich das Paar, 2009 stirbt Gennady.

 

In den Büros von Nochlezhka öffnet sie sich:

 

Das Räderwerk

Wir hatten ein sehr banales Eheleben. Alles ändert sich, als mein Koldin ernsthaft mit Trinken beginnt, seine Arbeit verliert und uns verlässt.

 

Ich arbeitete in der Zigarettenfabrik Cosmos in Achtstunden-Schichten, manchmal am Tag, manchmal nachts. Dies in einer tabakstaubgeschwängerten Umgebung.

Ich habe mir dabei eine chronische Bronchitis zugezogen. Der Lohn war miserabel.

 

Ich werde krank, mein alkoholsüchtiger Ex-Mann lebt in einem Raum von elf Quadratmeter; wir hatten keinerlei familiäre Unterstützung. Beiden von uns war es unmöglich, sich richtig um Maxim zu kümmern.

Und so musste er ins Waisenheim. Er war sieben Jahre alt.

 

Ich dachte, diese schreckliche Trennung sei nur von kurzer Dauer, die Zeit, um mich zu erholen und meine finanzielle Lage zu stabilisieren.

 

Ein Unglück kommt selten allein: meine kleine Wohnung wird mir gekündigt und ich muss bei Freunden um Aufnahme bitten, einmal hier, einmal dort.

 

Mein grösster Fehler in diesem Moment war, dass ich meine Papiere nicht in Ordnung brachte. Ich verliere meine Propiska.

 

Stellen Sie sich vor! Für die Verwaltung bin ich auch heute noch mit Koldin verheiratet, der vor 17 Jahren starb!

 

„Ich will mit dir nach Hause gehen“

Eltern, die ihre Kinder nicht nach sechs Monaten aus dem Waisenheim zurückholen, verlieren laut Gesetz die elterlichen Rechte.

 

Aber wie hätte ich ihn zurückbekommen können, da ich doch keine Propiska mehr hatte.

 

Am Tag, an dem das Gericht sein Urteil verkündete, wurde ich ohnmächtig.

 

„Wir können diesem Kind nicht erlauben, das Heim zu verlassen, weil es nicht registriert worden ist. Seine Mutter ist ebenfalls nicht registriert. Deshalb haben wir (der Staat) das Sorgerecht des Kindes“.

 

Es ist sehr schwierig, eine Genehmigung zu erhalten, um ihn im Heim zu besuchen.

 

Das letzte Mal, als ich ihn gesehen habe, ist schon lange her; Maxim war noch sehr jung. Er schrie: „Ich will mit dir nach Hause gehen…“.

 

Heute weiss ich, dass er krank ist. Er hat Asthma, eine schlecht behandelte Bronchitis.

Er wurde ins Spital eingewiesen und ich werde versuchen, ihn zu treffen.

 

Es ist sehr schwierig, die elterlichen Rechte zurückzuerlangen. Ich muss dazu eine Arbeit finden. Ich suche seit Monaten, bin sehr flexibel für alle Vorschläge, aber ohne Propiska ist es beinahe, ja völlig unmöglich, oder ich überlege mir,  Schwarzarbeit anzunehmen.

Ohne legale Arbeit kann ich kein Zimmer mieten. Und ohne gesetzeskonformen Mietvertrag keine Propiska.

 

„Ja, wirklich, ohne Ausweis sind wir hier nichts mehr“, fügt Irina mit einem Seufzer der Verzweiflung bei.

 

Die „Biez“

In Russland verlassen jährlich rund 15’000 Jugendliche im Alter von 18 Jahren oder weniger die spezialisierten Einrichtungen (Waisenheime, Internate, Kinderheime). Ungefähr 70% davon haben keine Identitätspapiere. Lesen Sie das Dossier.

 

Ohne Familienanschluss, ohne staatliche Unterstützung oder mit äusserst wenig, ohne Gesicht für die russische Verwaltung, ohne Ausweis, ohne Propiska, ohne Unterkunft, von allen verlassen, fristen sie ihr Leben auf der Strasse.

 

Diese Jungendlichen haben einen entsprechenden Spitznahmen: Die „Biez“. Auf russisch heisst biez ohne.

 

Wird Maxim zu dieser Klasse gehören?