Nichts beizufügen

Eine normale Nacht in St. Petersburg, wenn man die minus zehn Grad unerwähnt lässt, denen die Obdachlosen eine weitere Nacht ausgesetzt sein werden.
Wir schreiben den 27. Februar 2016, nichts deutet auf einen vorzeitigen Frühling hin. Der Schnee ist allgegenwärtig.

Es tut gut, an der Wärme zu sein
Es ist halb neun Uhr. Im Zelt von Nochlezhka an der Allee „9. Januar“ neben der Bahnstation Obuchovo im Bezirk Frunsensky befinden sich bereits etwa dreissig Personen.
Nachdem man eine Schleuse aus dicken grünen Stoffschichten durchquert hat, stehen am Eingang in losen Reihen Schuhe Wache.
Auf der linken Seite sorgt eine Heizung mit Thermostat für stabile zwanzig Grad.
Auf einem Klapptisch warten einige Teller mit dampfendem Ragoud auf die Nachzügler.
Auf dem Boden liegen die Gäste auf dünnen Schaumstoffmatratzen. Zwischen zwei Diskussionen kosten sie vom Abendessen oder schlafen bereits.
Während der Wind pfeift und das Zelt schüttelt, ist es im Innern angenehm warm.

Keine Streitigkeiten
„Jeden Abend finden hier etwa vierzig Obdachlose Unterkunft“, erklärt uns Boris, der diese Nacht die Leitung innehat.
Normalerweise öffnen wir das Zelt um 20 Uhr, manchmal auch früher, wenn es wirklich sehr kalt ist wie im vergangenen Januar, als das Thermometer minus dreissig Grad anzeigte.
Die Obdachlosen erhalten zwei warme Mahlzeiten, ein Nachtessen und ein Frühstück. Um dreiundzwanzig Uhr ist Lichter löschen.
Boris ergänzt, dass es sehr, sehr selten zu Streitigkeiten kommt. Die Nächte sind ruhig, dies auch deshalb, weil kein Alkohol konsumiert werden darf.

Der weisse Tod ist Nebensache
„Es ist zu bedauern, dass Nochlezhka nicht mehr solche geheizte Auffangstellen eröffnen kann, sie würden zahlreiche Leben retten“, sagt uns Andrei Tschapayev, verantwortlich für die Überlebenszelte.
„Mit etwas gutem Willen könnte man immer einen Ort finden, der für ein solches geheiztes Zelt geeignet ist.
Leider ist die petersburger Verwaltung gleichgültig, die Kälte und deren Opfer kümmern sie nicht“.
Draussen tobt der Sturm und man muss an die Tausenden Sans-Papiers denken, die unter diesen extremen Bedingungen überleben müssen.

Die Obdachlosen bekämpfen die Kälte mit blossen Händen
Der Nachtbus startet jede Nacht, um die Unglücklichen zu versorgen. Vier Stops, verstreut über die petersburger Vororte, vier weitauseinanderliegende Orte, verbunden durch das grosse, eindrückliche Autobahnnetz der Stadt.
Die Tournee dauert sechs Stunden. Link zum Video (nur in russischer Sprache)
Die Abgabe von Suppe, Tee, Brot und Süssigkeiten (heute Toffees) erfolgt zügig, jeder kennt die Verrichtungen, die er beim Verteilen ausführen muss.
Verzögerungen müssen vermieden werden. Je länger es dauert, desto stärker frieren die Obdachlosen sprichwörtlich ein.
Als Folge der fehlenden Schutzplätze bekämpfen die Obdachlosen die Kälte mit blossen Händen.

Sklavenhändler
Die Verpflegung stammt von grosszügigen Spendern oder staatlichen Institutionen wie diese technische Hochschule, wo wir anhalten, um in der Küche die Behälter mit Gemüsesuppe und dampfendem Tee aufzufüllen.
An den Haltestellen schleichen manchmal dunkle Gestalten herum. „Sklavenhändler“ nennt sie Igor, der Buschauffeur.
„Diese Lieferanten besonderer Art versuchen, die Obdachlosen mit übertriebenen Versprechen zu ködern“, ergänzt Igor in genervtem Ton.
„Es ist eine richtige Mafia. Wenn der Obdachlose einmal in ihren Händen ist, nützen sie ihn schamlos aus. Ich zögere nicht, sie zu vertreiben, obwohl ich dabei Risiken eingehe“.
Und um den Worten Taten folgen zu lassen, vertreibt Igor die Missetäter mit wilden Gesten und erklärt den Obdachlosen zum hundertsten Mal, diese Gestalten wie die Pest zu meiden.

Lächerliche Unterstände
Nach der Verpflegung verschwinden die Obdachlosen in kleinen Gruppen in der Dunkelheit. Ihre Zufluchtsorte sind Abbruchobjekte oder verlassene Keller. Hier haben sie im mindestens vier Wände und ein Dach, die sie ein wenig vor der Kälte und vor dem Wind schützen.
Lächerliche Unterstände, welche den Winter nicht davon abhalten können, jedes Jahr seinen Anteil an Menschenleben hinweg zu raffen.

Letztes Jahr erfroren offiziell 1’194 Personen. Hunderte erlitten schwere Frostbeulen. In gewissen Fällen wurden erfrorene Glieder ohne Narkose amputiert.