Die erbarmungslose Realität der Geschichte von Olga Woronova, 44 Jahre alt, zeigt deutlich, wie schwierig es ist, in Russland ohne Identitätsausweise zu überleben und wie sich die Situation in der Folge in ein Drama mit sklavenähnlichen Verhältnissen verwandeln kann. Olga stammt aus Witsebsk in Weissrussland.
Ein Mann schlägt Olga und ihrem gleichaltrigen Freund im September 2014 in einem Kaffeehaus von Witsebsk vor, in Sankt-Petersburg auf einer Baustelle zu arbeiten. Dabei werden ihnen eine Arbeitsbewilligung, ein fairer Lohn und eine akzeptable Unterkunft versprochen.
Angesichts der unsicheren wirtschaftlichen Lage der beiden Verliebten ist das Angebot verlockend. Sie sagen zu und sind einige Tage später mit elf weiteren Personen unterwegs nach Russland.
Die getarnte Sklaverei
Von diesem Moment an schuften sie «Teufel komm raus». Stets wird ihnen versichert, dass am folgenden Tag der Lohn ausbezahlt wird. Die Unterkunft besteht aus Hütten, durch die der Wind pfeift und mit symbolischen Sanitäreinrichtungen. Das Essen besteht aus dem absoluten Minimum.
Jeden Tag von neuem dieselben katastrophalen Zustände und kein Lohn. Die nie eingehaltenen Versprechen zerstören schlussendlich den naiven Optimismus von Olga und Wladimir. Sie verlassen die unehrliche, sklavenähnliche Situation in der Hoffnung, einen besseren Alltag zu finden.
Aber wohin sich wenden ohne Ausweis?
Sie landen unweigerlich auf der Strasse mit ihrem feuchten Winterklima. Das Überleben ist äusserst schwierig. Olga und Wladimir sammeln leere Flaschen und verkaufen sie für ein paar Kopeken.
Bei ihrem Umherirren hören sie vom Überlebenszelt von Nochlechka und treffen nach einem langen Fussmarsch dort ein. Auf Verlangen der Stadtverwaltung wurde das Zelt mehr als vierzig Minuten ausserhalb der ersten Untergrundstation im Quartier von Wassiliewsky errichtet, nur wenige Schritte von der Ostsee entfernt.
Eine geheizte Unterkunft
Seither dient ihnen das Zelt als geheizte Unterkunft.
Neben andern Opfern der fehlenden Propiska erhalten Olga und Wladimir dort zwei warme Malzeiten (Frühstück und Abendessen), eine medizinische Untersuchung pro Woche sowie Medikamente für die erste Hilfe. Zwei Sozialassistenten begleiten sie, freiwillige Ärzte stellen die medizinische Betreuung sicher.
Olga und Wladimir haben immer noch Hoffnung auf bessere Tage, dass sie in Sankt-Petersburg Arbeit und eine anständige Wohnung finden werden.
Nochlezhka kann ihnen lange erklären, dass dies ohne Ausweise ein Ding der Unmöglichkeit ist und dass sie erneut in die Fänge von überall lauernden Sklavenhändlern geraten werden. Die russische Nichtregierungs-Organisation ist bereit, die beiden bei der Rückkehr nach Witsebsk zu unterstützen. Umsonst, die Antwort ist «Niet». Für den Moment.